„Ein Wir-Gefühl zu schaffen, das war das Wichtigste“

Jürgen Michaelis dankt nach 30 Jahren ab/Interview mit der scheidenden Bürgermeister-Legende

Er gehört zu Gelnhausen wie die Türme der Marienkirche: Seit 30 Jahren ist Jürgen Michaelis Bürgermeister der Barbarossastadt. Eine Ära, die am kommenden Dienstag mit der Vereidigung seines Nachfolgers Thorsten Stolz zu Ende geht. Der stellvertretende GNZ-Redaktionsleiter Dieter Geissler und die GNZ-Redakteurinnen Esther Ruppert-Lämmer und Tanja Bruske sprachen mit dem scheidenden Stadtoberhaupt über Erfolge, Niederlagen, Pläne – und die Stunde des Abschieds.

GNZ: Als Sie vor 30 Jahren Bürgermeister wurden, haben Sie lange gezögert, ob Sie den Job überhaupt annehmen wollen. Im Nachhinein: War das richtig?

Jürgen Michaelis: Ja.

Warum?

Weil es meine Heimat ist. Ich habe lange gezögert, weil ich damals als normaler Beamter persönlicher Referent des Landtagspräsidenten war und anschließend in das Innenministerium wechseln sollte. Man bleibt ja nicht auf Lebenszeit persönlicher Referent. Wobei es eine ganz gute Schule war. Ich war in allen westdeutschen Landeshauptstädten. Dort hat mich mein Chef hingeschickt. Es ging um Parlamentsreformen. Dann habe ich das ganze Hessenland mit ihm bereist, alle Probleme mit ihm erfahren, ob das jetzt Müllabfuhr war oder polizeiliche Dinge oder kommunale Fragen. So war es eine ganz gute Vorschulung für dieses Amt, was ich damals aber noch gar nicht wusste. Aber diese Schulung war dann ganz wichtig und nützlich. Zum einen hat man sämtliche Probleme, Parlamentsreformen, Landesgebietsreformen, dann Probleme der Landkreise, der Kommunen, ob das Feuerwehr war oder andere Dinge, die Infrastruktur und das alles kennengelernt. Dann musste ich ja sämtliche Reden schreiben, bis hin zum hessischen Fleischerverbandstag. Ich habe mich schlau gemacht über die Hackfleischverordnung und vieles andere. So etwas kommt einem dann später alles sehr zugute.

„Hier ist meine Heimat“

Wann fiel die Entscheidung für die Politik?

Interessanterweise kamen Vertreter aus Meerholz und Höchst – das waren ja zwei zwangseingegliederte Stadtteile – zu mir und haben gesagt „Wenn Sie es jetzt nicht machen, dann holen wir wieder einen Fremden.“ Und das war eine Herausforderung für mich. Denn hier ist meine Heimat. Ein Teil meiner Familie ist nachweislich seit dem 13. Jahrhundert in Gelnhausen. Ich habe die Schönheiten der Stadt erst kennengelernt, als ich weg war. Ein Vorfahre von mir, Schöffer, war auch mal hier Bürgermeister, und zwar 28 Jahre lang. Bürgermeister Frey war auch ein Verwandter von mir. Ein Onkel war mal preußischer Kultusminister in der Weimarer Zeit, Becker hieß er, Schöffer-Becker, soweit also, was die Tradition oder die Herkunft angeht.

30 Jahre sind eine lange Zeit, in der es sicherlich viele Erfolge zu feiern, aber auch einige Niederlagen zu verkraften gab. Was ist Ihnen dabei besonders im Gedächtnis haften geblieben?

Fangen wir mal an, was nicht so gut geklappt hat, wie ich das wollte. Das ist die Unterführung in Altenhaßlau. Das ist eine Leidensgeschichte. Ich hätte auch ganz gerne noch das Feuerwehrgerätehaus in Hailer-Meerholz gebaut. Aber die Grundlagen dafür sind jetzt geschaffen worden. Alle Stadtteile haben jetzt ihr Gemeinschaftshaus. Höchst ist ja im Entstehen. Das Wichtigste ist vielleicht gewesen, dass es gelungen ist, ein gewisses Wir-Bewusstsein zu schaffen, ein Wir-Gefühl für die Stadt. Zu meinen Erfolgen zähle ich die Sanierung der Gelnhäuser Altstadt und die Schaffung von lebendigen Mittelpunkten in allen Stadtteilen. Die Leute leben heute im Einklang mit ihrem Ort. Auf diese Weise sind im ganzen Stadtgebiet alters- und sozial gemischte Bewohnerstrukturen entstanden, Plätze, Straßen, Türme und Gebäude im historischen Stil wurden wiederhergestellt. Auch auf die Schaffung eines „Wir-Gefühls“ habe ich immer sehr viel Wert gelegt. Veranstaltungen wie das historische Stadtfest, das ich mit ins Leben gerufen habe, der Gelnhäuser Abend, die Wiederbelebung des Hageltags oder die Verleihung des Grimmelshausen-Preises haben sicherlich positiv zu dieser Entwicklung beigetragen.

„Das Jahr 1992 war für mich sehr deprimierend“

Was war für Sie die schwierigste Periode Ihrer Amtszeit?

Das Jahr 1992 war für mich sehr deprimierend. Damals hat uns das Land Hessen – nach acht Monaten erbitterten Widerstands – 1400 Asylbewerber aus 52 Nationen in die ehemaligen Kasernen gesetzt. Dieses Jahr hat Spuren hinterlassen und ist mir an die Substanz gegangen. Zwei Stunden Schlaf pro Nacht waren damals keine Seltenheit. Die Aggressivität, die seinerzeit hier herrschte – da habe ich mich manchmal ohnmächtig gefühlt. Positiv war jedoch, dass es mir gelungen ist, die zentrale Abschiebeeinrichtung, die hier in Gelnhausen entstehen sollte, zu verhindern. Und auch, dass unsere Amis die Ersten waren, die dank des Baus des umweltfreundlichen Heizkraftwerkes an der US-Wohnsiedlung mit Fernwärme von den Russen beheizt wurden, würde ich als Erfolg werten. Damals habe ich sogar einen Brief an US-Präsident Reagan und meinen alten Freund Colin Powell geschrieben; das Antwortschreiben aus dem Weißen Haus habe ich heute noch.

Hat sich die politische Kultur in den vergangenen Jahrzehnten verändert? Oder andersherum gefragt: Wird heute anders gestritten als früher?

Die Menschen haben sich verändert. Ich habe von Beginn meiner Amtszeit an Wert darauf gelegt, Brücken zu schlagen, anstatt Gräben aufzureißen. Ich habe immer mit allen Parteien gesprochen – und das war nicht immer unumstritten, wie Sie sich vorstellen können. Ich habe immer zu interfraktionellen Gesprächen ins Rathaus eingeladen. Wer kommen wollte, der kam, und wer nicht, der ließ es bleiben. Mit Mauschelei hatte das nichts zu tun. Ich bin der festen Überzeugung, dass man kommunalpolitisch nur Erfolg haben kann, wenn alle an einem Strang ziehen.

Diese Haltung ist in Ihrer Partei sicher nicht bei allen auf Gegenliebe gestoßen. Was entgegnen Sie Ihren Kritikern?


In erster Linie bin ich Mensch, mit allen Schwächen und manchmal auch Stärken, der ganz bestimmte Eigenschaften nicht mag: Arroganz, Neid und Missgunst. In zweiter Linie habe ich einen Diensteid geleistet für das Wohl der Stadt und der Bürger. In dritter Linie bin ich Gelnhäuser. Dann kommt lange nichts. Und dann, in vierter Linie, bin ich Mitglied einer politischen Partei.

„Es gibt heute viel mehr Einzelkämpfer und Selbstdarsteller“

Und was hat sich verändert?

Heute gibt es viel mehr Einzelkämpfer und Selbstdarsteller, die sich gerne reden hören und die Stadtverordnetenversammlung mit dem Bundestag verwechseln. Und ich höre lieber einen ordentlichen Gesangverein als meine eigene Stimme. Der Drang, die Probleme der Welt lösen zu wollen, statt sich um die Dinge hier zu kümmern, darum, wo die Menschen hier der Schuh drückt – da hat sich vieles geändert. Leute, die anders abstimmen, hat es immer schon gegeben. Aber da zählte Ehrlichkeit, da gab es keine Heckenschützen. Das ist heute nicht mehr Fall.

Wo sehen Sie die künftigen Herausforderungen, denen sich die Stadt Gelnhausen stellen muss?

Hier ist in erster Linie die Beseitigung der schienengleichen Bahnübergänge in Gelnhausen und Meerholz sowie die Entwicklung der Südstadt hin zu einem Einkaufs-Erlebniszentrum zu nennen. Wir können gegen die Ungetüme auf der grünen Wiese nur mit einem eigenen Entwurf angehen. Es kommt doch keiner aus dem Umland hierher, um ein Pfund Butter zu kaufen. Nein: Es geht darum, den Besuch im Krankenhaus oder beim Facharzt mit einem Einkaufserlebnis, einem schönen Bummel zu verbinden. Hier kommt es auf Qualität und Leistung an – das Angebot muss einfach stimmen. Die Stadt kann dabei nur Rahmenbedingungen schaffen. Leistung, Beratung, Atmosphäre, Sympathie, Annehmlichkeiten – diese Dinge müssen von den Dienstleistern selbst kommen.

Mit welchen Themen wird sich Ihr Nachfolger noch beschäftigen müssen?

Da wären der Hochwasserschutz und natürlich die Entwicklung der amerikanischen Wohnsiedlung. Es kann und darf hier keine Ghettobildung geben. Da müssen gemischte Alters- und Sozialstrukturen rein, da müssen Grünflächen geschaffen und kleine Tante-Emma-Läden angesiedelt werden.

Welche Tipps geben Sie Thorsten Stolz mit auf den Weg?

Nicht alle haben ihn gewählt, aber man sollte ihm eine Chance geben, so wie ich das auch tue. Es geht um das Wohl der Stadt Gelnhausen. Wenn wir uns hier zerfleischen, lacht das ganze Umland. Investoren, die das von außen beobachten, sagen ansonsten: In eine Stadt, die so zerstritten ist, investiere ich nicht. Thorsten sollte dafür sorgen – und ich habe auch den Eindruck, dass er das macht – auf die anderen Parteien zuzugehen. Er sollte nicht die Speerspitze einer Partei sein. Auf die anderen zugehen, sie informieren und versuchen, die Parteien in allen wesentlichen Sachfragen, die für die Struktur der Stadt wichtig sind, zu einen – darauf kommt es an. Und Zuhören ist wichtig. Nicht immer sind die selbst ernannten Berater auch Freunde. Da muss man aufpassen.

Sie stehen an der Schwelle vom Berufsleben zum Pensionärsdasein. Weckt das bei Ihnen Ängste und Sorgen? Wird Ihnen dieser Übergang schwer fallen?

Ich muss erst mal bei mir zu Hause aufräumen. Darüber hinaus bleibe ich Vorsitzender der Gelnhäuser Kulturstiftung und Mitglied bei einigen übergeordneten Organisationen. Und natürlich beim Verkehrsverein.

„Ich unterhalte mich mit meinem Nachfolger nicht über die Zeitung“


Und politisch ziehen Sie als „graue Eminenz“ im Hintergrund die Strippen?

Auf keinen Fall! Ich bin gerne bereit, wenn jemand mich fragt, einen Rat zu geben, aber nicht in der Öffentlichkeit. Ich unterhalte mich mit meinem Nachfolger nicht über die Zeitung. Nicht dass ich mich absondere, das ist nicht mein Ding. Ich werde mich aber nicht mehr parteipolitisch äußern – das gehört sich nicht, das ist unanständig.

Und was hat der Privatmensch Jürgen Michaelis für Pläne?

Ich bin kein großer Reiseonkel, aber ich will noch an die Westküste der USA, nach British Columbia, nach Neuseeland und Namibia – und öfter mal zu meiner Tochter nach Hamburg. Schließlich gibt es auch in Deutschland wunderschöne Orte, an denen ich noch nicht war. Ansonsten will ich mehr Wandern und künftig länger bei Veranstaltungen verweilen, wo ich sonst nicht sehr lange bleiben konnte. Langeweile habe ich in meinem Leben noch nie gehabt.

Am 14. April werden Sie mit einer außergewöhnlichen Zeremonie, einem Zapfenstreich auf dem Obermarkt, verabschiedet. Welche Emotionen löst das bei Ihnen aus?

Der Zapfenstreich ist für mich ein sehr bewegendes, deutsch-preußisches Mysterium. Ich empfinde ein natürliches Nationalbewusstsein – das ist das beste Bollwerk gegen Nationalismus. Denn wer seine Heimat liebt, der erkennt, dass die Menschen in anderen Ländern genauso denken, der überfällt sie auch nicht.


Und zum Abschied wird dann „My way" wie bei Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder gespielt?

Um Gottes Willen, nein! Mit dem englischen Kram kann ich doch nichts anfangen...

GNZ,(erl).

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